19. November 2006
Rede zum Volkstrauertag 2006
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Pastor Marahrens, lieber Herr Tölle,
ich möchte mich zunächst im Namen des Rates der Stadt Osnabrück und unseres Oberbürgermeisters Boris Pistorius bei Ihnen bedanken, dass der Ortsverband Gretesch-Lüstringen des Sozialverbandes Deutschland auch in diesem Jahr wieder die Gedenkfeier zum Volkstrauertag ausrichtet und damit eine wichtige Tradition fortsetzt.
Der Volkstrauertag ist ein Tag der Mahnung: Wir alle sind aufgerufen in unserer täglichen Geschäftigkeit innezuhalten und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. Die Erinnerung wachzuhalten, an den millionenfachen Tod an den Fronten und in der Heimat, wird immer wichtiger. Denn sie werden von Jahr zu Jahr weniger, die Menschen, die einen der beiden Weltkriege, die unser Land im letzten Jahrhundert durchlitten hat, selbst noch erlebt haben, die Menschen also die persönlich betroffen sind und Freunde, Kameraden und Angehörige im Krieg verloren haben.
Sie werden immer weniger, die Menschen, die am eigenen Leib erfahren haben, was es bedeutet im Krieg zu sein. Aber selbst wenn es niemand mehr wäre, der den Krieg noch selbst erlebt hat, selbst wenn noch mehr Menschen immer lauter davon sprechen, dass man doch endlich einen Schlussstrich ziehen und die Vergangenheit ruhen lassen soll, selbst dann – und gerade dann – wäre der heutige Tag wichtig und wird von Jahr zu Jahr wichtiger: Vergessen macht sich nämlich breit. Diejenigen, sie aus eigener Erfahrung berichten können, werden weniger. Die Generation der ich angehöre, kann sich all dies nur anlesen, vorzustellen versuchen wie es war, erfahren habe ich es nicht. Und so macht sich die Gefahr des Vergessens ganz schnell breit.
Und so verwundert es auch nicht, dass es trotz der Erfahrungen die in den vergangenen Weltkriegen gemacht worden sind, seit dem Ende des 2. Weltkriegs im Jahr 1945 weltweit über 150 Kriege und Konflikte gegeben hat und leider auch immer noch gibt. Heute ist Deutschland zwar nicht an kriegerischen Handlungen beteiligt und befindet sich auch nicht im Krieg, dennoch beteiligt sich die Bundeswehr an sog. Friedenserhaltenden Maßnahmen in aller Welt. Ich nenne nur die Stichworte: Afghanistan, Kongo, Somalia, Libanon oder vor unserer Haustür im Kosovo.
Über Sinn oder Unsinn dieser Maßnahmen mag jeder seine eigene Meinung haben, mich macht es zumindest sehr nachdenklich, wenn ich sehe, dass die Bundeswehr mittlerweile weltweit im Einsatz ist und in sehr gefährlichen Gebieten zum Einsatz kommt. 60 Jahre nach Kriegsende müssen Familien wieder Angst um ihre Angehörigen haben.
Denke ich an meine eigene Familie, kann ich nur sagen: Meine Familie hat Glück gehabt: Mein Großvater lebte in Schlesien und musste mit 29 Jahren als Vater und Ehemann in den Krieg nach Russland. Es folgten Verletzungen, Gefangenschaft und verlorene Jahre in denen er seine Familie nicht sah. Er, meine Großmutter, mein Onkel und meine Mutter, die damals noch Kinder waren, verloren ihre Heimat in Schlesien, mussten alles zurücklassen und flohen schließlich nach Osnabrück. Ihnen wie Millionen Anderen ist viel abverlangt worden.
Ich bin glücklich und stolz darauf, dass die Generation nach dem Krieg in Deutschland einen demokratischen Rechtsstaat aufgebaut hat und dass wir mittlerweile seit 60 Jahren in Frieden und Wohlstand leben können. Dennoch oder gerade deshalb müssen wir die Erinnerung an das, was gewesen ist, wach halten und uns gegen das Vergessen mit aller Macht stemmen. Vor 60 Jahren ging eine der größten Katastrophen unserer jüngeren Geschichte zu Ende. Der deutsche Staat lag zerschlagen am Boden, die Städte waren zerstört und viele Millionen Menschen auf der Flucht. 55 Millionen Menschen – davon 7 Millionen Deutsche – bezahlten den Zweiten Weltkrieg mit ihrem Leben.
Ich erinnere an den 13. September 1944, als das historische Zentrum Osnabrücks im Feuersturm verglühte. 22.000 Menschen wurden über Nacht obdachlos. Rund 2.000 Sprengbomben und 11.000 Brandbomben fielen in dieser Nacht auf Osnabrück und kosteten 154 Osnabrückern das Leben. Mehr als 800 Brände zerstörten in dieser Nacht die historische Altstadt von der Hasestr. Bis zur Johannisstr. Der Turm von St. Marien, das Rathaus und die historischen Bürgerhäuser am Markt gingen in Flammen auf.
Die Bilanz des Schreckens am Ende des Krieges in Osnabrück: rd. 1.400 Tote, 2.000 Verletzte, 11.000 zerstörte Wohnhäuser, 900.000 cbm Trümmer häuften sich in der Stadt.
In Lüstringen gab es im Mai 1940 den ersten Bombenabwurf, der erheblichen Sachschaden anrichtete. Der stärkste Angriff erfolgte am 11.01.1944 auf die Fa. Schoeller. Amerikanische Flugzeuge warfen schon in Jeggen beginnend, über Darum, die damalige Flakstellung bei Sundermann, die Belmer Str. die Bomben bis nach Osnabrück. Sundermanns Kotten bekam 2 Treffer, das Haus Bullerdiek – heute am Mühlenbach in Gretesch – erlitt einen Volltreffer, der damalige Sportplatz bei Hehmann wurde 2 mal getroffen und ein Teil der Firma Schoeller ging in Flammen auf.
Am 19. März 1945 wurde der aus Bayern stammende Pilot Erwin Schrott in seiner Maschine von einer amerikanischen Jagdmaschine schwer getroffen und stürzte in der Nähe des Hofes Voß in Gretesch ab. Bauer Glüsenkamp versuchte den Piloten zu bergen, konnte ihn jedoch nur noch tot aus der Maschine ziehen. Wegen der starken Bombenangriffe zu dieser Zeit – Palmsonntag war am 25. März 1945 als Osnabrück zu 65% zerstört wurde – konnte Erwin Schrott erst 10 Tage später, am 29.03.1945, auf dem Heger Friedhof beigesetzt werden. Das Grab des Erwin Schrott gibt es noch heute auf dem Heger Friedhof.
Diese schrecklichen Beispiele sollten uns heute eine Mahnung sein, alles dafür zu tun, das von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht. Dabei ist jede und jeder einzelne von uns vor Ort gefordert und trägt Verantwortung.
Was wir tun, wie wir reden und selbst was wir denken, trägt seinen Teil zum großen Geschehen bei. Das galt für die Zeit, an die der heutige Volkstrauertag erinnert und es gilt kein bisschen weniger für heute.
Meine Damen und Herren,
bei den heutigen Erinnerungen an die Opfer, bei unserer Trauer und den Gedanken an die Vergangenheit, sollten wir aber auch – trotz der anhaltenden Kriege oder gerade deshalb – den Blick nach vorn richten. Alle, die einen Krieg und seine Folgen erlebt haben, wissen ganz besonders, dass Frieden ebenso wie Gesundheit ein unbezahlbares Gut ist. Dass dieses auch den nachfolgenden Generationen bewusst ist, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ziel aller Bürgerinnen und Bürger sollte es sein, sich für Versöhnung, Frieden und für die Beachtung der Menschenrechte einzusetzen sowie im täglichen Leben Toleranz zu zeigen.
Angesichts der aktuellen Bedrohungen durch Terror und Fanatismus warne ich davor, jetzt in Stammtischparolen zu verfallen. Nichts wäre falscher, als sich nach Sündenböcken umzusehen. Und nichts wäre furchtbarer, als Menschen, die nur in Frieden leben wollen, mit Terroristen in eine Ecke zu stellen. Ich denke, dass wir es sehr ernst nehmen müssen, wenn beispielsweise türkische Mitbürger auch in Osnabrück ganz offen sagen, dass sie Angst haben. Angst davor, komisch angeschaut zu werden, von vornherein verdächtig zu sein. Wohin das führt, wenn Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft oder aufgrund ihrer Religion beargwöhnt oder gebrandmarkt werden, auch daran erinnert uns der heutige Tag.
Um so unverständlicher ist aus meiner Sicht, dass gerade junge Menschen in letzter Zeit den Parolen der Ewiggestrigen und Neo-Nazi-Verbrecher wieder auf den Leim gegangen sind. Die Wahlerfolge der NPD in jüngster Zeit sind für uns alle beschämend und erschreckend zugleich. Der Gedanke, dass die NPD in Berlin – sozusagen im Zentrum Europas – ihren Bundesparteitag abhalten will, beschämt alle anständigen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und macht mich zugleich wütend, dass so etwas 60 Jahre nach Kriegsende in Deutschland wieder möglich ist. Und das auch noch mit Genehmigung der Gerichte.
Ich denke, die evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann hat Recht, wenn Sie die Politiker aller demokratischen Parteien im Bundestag auffordert angesichts der neuen Bedrohungen durch die braunen Brandstifter und Brunnenvergifter das Verbotsverfahren gegen die NPD wieder aufzunehmen. Ich denke, wir sind dies den vielen unschuldigen Opfern im letzten Krieg einfach schuldig, dass derartiges sich in Deutschland niemals wiederholt. Wehret den Anfängen, machen wir gemeinsam den Mund auf, statt zu schweigen, wenn wieder einmal Minderheiten verhöhnt und Nazischergen versuchen in unsererem schönen Osnabrücker Land Fuß zu fassen.
Auf ein aktuelles Beispiel von Zivilcourage auch hier in Lüstringen möchte ich Sie zum Schluss dieser Gedenkveranstaltung noch hinweisen. Wie sie vermutlich wissen, gibt es im Osnabrücker Umland, konkret in Bad Essen, ein Hotel, das mittlerweile zu einem Tagungszentrum von Neo-Nazis geworden ist, in dem sich zumindest Neo-Nazis regelmäßig treffen. Die gleichen Leute waren vor gar nicht all zu langer Zeit in Lüstringen unterwegs und suchten eine geeignete Gaststätte, in der sie mit rund 120 Neo-Nazis ein ganzes Wochenende tagen und ihre braunen Rattenfängerparolen hätten verbreiten können.
In unserem altehrwürdigen Cafe Berghaus, das ja heute Altes Berghaus heißt, glaubten diese Leute fündig geworden zu sein und boten dem Wirt eine hohe Summe, wenn er Ihnen das gesamte Lokal für ein ganzes Wochenende zur Verfügung stellt. Der Wirt des Cafe Berghaus zeigte Mut und Zivilcourage und lehnte es ab, sein Restaurant den Neo-Nazi-Schergen aus Bad Essen zu überlassen, so dass uns diese Veranstaltung, Gott Lob, erspart blieb.
Meine Damen und Herren,
dieses kleine Bespiel zeigt, dass die Geschehnisse, die wir vor allem in Osten Deutschlands beklagen, so weit gar nicht weg sind, dass aber das beherzte Eingreifen Einzelner, hier also des Wirts vom Alten Berghaus, erfolgreich dazu führen kann, Zeichen zu setzen und diese Leute in ihre Schranken zu verweisen. Ich denke, dem Wirt des Alten Berghauses gebührt für seine Entscheidung unser Lob und unsere Anerkennung.
Wichtig ist es daher auch die jungen Leute und Jugendlichen zu sensibilisieren und immer dort aufzuhorchen, wo andere stigmatisiert, ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden. Wohin Ausgrenzung einzelner Gruppen führt, daran erinnert uns auch der heutige Volkstrauertag. Vielleicht ist es ja eine gute Idee, wenn sich auch einmal, ohne das ich das jetzt vorher mit unserem Pastor Frieder Marahrens abgestimmt hätte, die Konfirmanden der Petruskirche mit dem Thema beschäftigen würden. Ich denke, Themen wie Unterdrückung, Gewalt oder Ausgrenzung anderer, insbesondere der vermeintlich Schwächeren in der Gesellschaft, ich denke, dass das auch und gerade Themen für den Konfirmandenunterricht wären. Und vielleicht übernehmen ja auch die Konfirmanden den Volkstrauertag im nächsten Jahr vorzubereiten, zumindest aber daran teilzunehmen. Wir sollten unseren Pastor Mal auf dieses Thema ansprechen.
Lassen Sie mich dieses Jahr, weil es gerade so schön passt, schließen, mit einem Zitat aus der Bibel, dem 2. Buch Mose im Vers 23:
Schließe dich nicht der Mehrheit an, wenn sie auf der Seite des Unrechts steht.
In diesem Sinne bedanke ich mich, auch im Namen des Stadtrates und des Oberbürgermeisters, bei allen Beteiligten für die Organisation und Durchführung der heutigen Gedenkfeier zum Volkstrauertag und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.